Alles steht auf dem Prüfstand
Berliner Republik 2/2004
Wie zu Beginn des Industriezeitalters muss die Sozialdemokratie heute   Antworten auf die Herausforderung radikalen gesellschaftlichen Wandels   finden. Nichts ist deshalb für die Partei in der kommenden Zeit so   wichtig wie fundierte Programmarbeit - VON URSULA MOGG
In wenigen Tagen wird Gerhard Schröder den Vorsitz der SPD an Franz Müntefering abgeben. Auf den neuen Parteivorsitzenden wartet keine leichte Aufgabe. Er übernimmt Verantwortung in Umbruchzeiten, die vergleichbar sind mit denen vor 141 Jahren, als Ferdinand Lassalle vor dem Hintergrund der Auflösung einer feudalen Gesellschaftsordnung die politischen Forderungen für das Industriezeitalter formulierte.
Der Umbruch des beginnenden 21. Jahrhunderts wird in  Deutschland - wie in allen entwickelten Demokratien und Industrieländern  - markiert durch die Herausforderungen des demografischen Wandels, des  Arbeitsmarktes und der Globalisierung. Diese Herausforderungen sind so  gewaltig, dass sie die SPD und mit ihr die gesamte Gesellschaft zu  zerreißen drohen. Nichts kann so bleiben, wie es ist. Alles steht auf  dem Prüfstand.  All das, was über viele Jahrzehnte an demokratischen Rechten und sozialer  Sicherheit erkämpft wurde, steht zur Diskussion. Die Absicherung der  großen Lebensrisiken - Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Pflege - muss  neu formuliert werden. Bildung, Qualifizierung und Forschung bedürfen  der besonderen Aufmerksamkeit. Das Thema "Zuwanderung" - in ständiger  Wiedervorlage auf der Tagesordnung - muss endlich gelöst werden. Eine  wahre Herkules-Aufgabe, vor allem auch mit Blick auf die  Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat.  Es lohnt an dieser Stelle, einen  kurzen Rückblick auf die von Gerhard Schröder zu verantwortende  Regierungszeit seit 1998 und speziell das Jahr 2003 zu werfen, um das  tatsächliche Ausmaß der Herausforderung zu verstehen. Eine Ahnung, dass  unsere Gesellschaft einer grundsätzlichen Erneuerung in allen Bereichen  bedarf, haben wir schon lange. Deren Verdrängung wurde erleichtert durch  andere Entwicklungen, die der besonderen politischen Aufmerksamkeit  bedurften: die deutsche Einheit und die damit verbundenen  außenpolitischen Herausforderungen. Die SPD-geführte Bundesregierung  drehte nach dem Wahlsieg 1998 zaghafte Reformschritte der konservativen  Regierung aufgrund eindeutiger Wahlversprechen zurück. Gleichzeitig  wurden Entscheidungen getroffen, die im Wahlprogramm offensichtlich ohne  besonderen Aufmerksamkeitswert angekündigt worden waren. Dazu gehört  die private Vorsorge für das Alter. Die Modernisierungsvorschläge von  Gerhard Schröder und Tony Blair, vorgelegt im Juni 1999, wurden in  weiten Teilen der SPD heftig kritisiert und relativ schnell wieder zu  den Akten gelegt. Erst mit der Regierungserklärung von Gerhard Schröder  vom 14. März 2003 und der damit formulierten Agenda 2010 wurde aus der  Analyse Regierungshandeln. Die "Echternacher Springprozession" hatte ein  Ende.     Ein Mann gegen den Sturm  Der Bundeskanzler Schröder stellte  sich damit der Realität - der Parteivorsitzende Schröder löste in seiner  Partei einen Sturm aus, so heftig, dass er die Verantwortung für die  SPD jetzt in andere Hände legen wird. Basta-Diskussion,  Mitgliederbegehren, Sonderparteitag, dramatischer Absturz der SPD in den  Umfragen, Parteiaustritte in nicht gekannter Größenordnung, heftige  Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften, Schmähungen der  Verantwortlichen aller politischen Ebenen und schließlich der  Sonderparteitag mit der Wahl eines neuen Vorsitzenden markieren für die  deutsche Sozialdemokratie historische und stürmische Monate. Den Sturm  beizulegen, das Schiff SPD in ruhigeres Fahrwasser zu bringen - nicht  mehr und nicht weniger wird die Aufgabe des neuen Parteivorsitzenden  Franz Müntefering sein. Wie kann das gelingen?  Auffällig in dieser für  die SPD historischen Situation ist zunächst, dass nicht die "Urenkel"  den Machtanspruch unabweisbar formulieren. Ein junger Strahlemann oder  eine strahlende junge Frau drängen sich nicht zwingend auf, um der  Partei den Weg in die neue Zeit zu weisen. Mit Franz Müntefering  übernimmt ein "alter" Sozialdemokrat das Ruder. Lehre als  Industriekaufmann, kaufmännischer Angestellter in der Metall  verarbeitenden Industrie - so steht es in dürren Worten in Kürschners  Volkshandbuch. Insgesamt ein wenig spektakulärer Lebenslauf, frei von  Skandalen. Das wissen Sozialdemokraten zu würdigen. Klare Sprache,  bescheidener Auftritt. "Sohn", nicht "Enkel", ein zukünftiger  Vorsitzender, der die Generationen zusammenführt und wenn möglich in  ihren zum Teil unterschiedlichen Ansprüchen und Erwartungen an die  Politik versöhnt.     Der Weg in die neue Zeit ist steinig und steil   Franz Müntefering hatte nach dem 14. März 2003 zunächst die überaus  wichtige Aufgabe, die Bundestagsfraktion zusammenzuhalten. Er hat sich  der notwendigen Überzeugungsarbeit in den Reihen der Abgeordneten selbst  zweifelnd und tastend genähert. Er ist in dieser Aufgabe Tag für Tag,  Monat für Monat gewachsen. An seiner klaren inhaltliche Festlegung auf  die Agenda 2010 lässt er heute keinen Zweifel. Er ist sich sicher: Die  SPD ist auf dem richtigen Weg. Die Sozialdemokratinnen und  Sozialdemokraten folgen ihm leicht verzagt, aber sie trauen ihm zu, dass  er das richtige will und dafür das Notwendige tut.  Mut machen und  Orientierung geben - das muss Franz Müntefering zuallererst! Nicht nur  der SPD, sondern allen Menschen in diesem Land. Die Zeiten scheinen  dunkel und kalt: Kein Milieu, das Wärme gibt. Keine Nischen, die das  Verweilen erlauben. Es geht nicht darum, den Sozialstaat abzubauen,  sondern darum, ihn zukunftssicher zu machen. Dazu bedarf es vieler  Neujustierungen. Dazu muss der Staat einerseits fördern, andererseits  aber auch fordern. Eigene Anstrengung und Verantwortung müssen belohnt  werden. Der Weg in die neue Zeit ist steinig und steil. Aber war er das  nicht immer? Und haben die Generationen vor uns nicht Hervorragendes  geleistet, das uns ermutigt, nicht zu verzagen und uns der neuen Zeit  mutig zu stellen und sie gerecht zu gestalten. Das war immer  sozialdemokratischer Anspruch. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten  haben die historische Chance, der unbestritten notwendigen Erneuerung  ihren Stempel aufzudrücken. Das ist jede Mühe wert! Das bedarf der  Anstrengung aller!     Wer wird eigentlich in diesen Zeiten Mitglied?   Dabei lohnt es sich, einen Blick auf diejenigen zu werfen, die in dieser  schwierigen Zeit gegen den Trend Mitglied in der SPD werden. Sie sind  überdurchschnittlich jung und weiblich, pragmatisch und  zukunftorientiert, manchmal auch einfach nur trotzig. Offensichtlich  zeichnet sich hier auch ein Wandel in der SPD-Mitgliedschaft ab, der wie  vieles andere seit längerer Zeit zu erkennen ist. Was die neuen  Mitglieder mit denen verbindet, die die Partei verlassen, ist die  Forderung nach Gerechtigkeit. Erkennbar besteht die Herausforderung für  den neuen Parteivorsitzenden auch darin, diesen Begriff im nationalen  und internationalen Rahmen modern zu definieren und damit vielleicht  auch die alten Mitglieder zurück zu gewinnen.  Erklären und werben - das  muss der neue Parteivorsitzende ebenso. Die Diskussion um die Agenda  2010 hat oft den Eindruck erweckt, als wären Sozialdemokratinnen und  Sozialdemokraten angetreten, um die Menschen zu quälen. Die SPD ist in  der Situation, im nachhinein erklären zu müssen, was sie bereits  beschlossen hat. Die Vielfalt der unterschiedlichen Themen der Agenda  2010 hinterlassen auch beim geneigten Beobachter der politischen Debatte  oft den Eindruck, dass die Systematik fehlt. Diese Vorgehensweise ist  neu und nur zu erklären mit dem großen Reformdruck. Gerhard Schröder  hatte aufgrund der Befindlichkeit seiner Partei und der gesamten  Gesellschaft keine andere Wahl, als den "Überfall" zu wagen. Es muss  aber jedem einsichtig sein, dass die Tatsache, dass wir alle immer älter  und immer weniger werden, zwingend zu Konsequenzen für unsere sozialen  Sicherungssysteme führen muss. Die deutsche Sozialversicherung wurde von  Sozialdemokraten initiiert als das Durchschnittsalter deutlich  niedriger lag, als vielen jungen eine kleine Zahl von älteren Menschen  gegenüberstand. Allein innerhalb der letzten Generation stieg das  Lebensalter statistisch um fünf Jahre. Dank des medizinischen  Fortschritts sind es gesunde, lebenswerte Jahre. Das kostet Geld!  Nachvollziehbar und berechtigt! Und ist es das nicht auch wert? Darin  liegt die notwendige Aufgabe, den demografischen Faktor positiv zu  deuten. Wer macht das Altwerden endlich sexy?     Orientierung und  Heimat in einer neuen Welt  Daraus folgt zwingend, dass die bestehenden  Sozialsysteme modernisiert werden müssen. Eigenverantwortung darf dabei  kein Tabu sein. Mit der Riester-Rente wurde dazu ein Anfang gemacht. Im  Rahmen der Diskussion um die Gesundheitsreform sind viele Aspekte  dazugekommen. Dass die heftigen Debatten der vergangenen Monate nicht  ohne Erfolg geblieben sind, zeigen neue Umfrageergebnisse. Immerhin 51  Prozent der Befragten sind für eine Fortsetzung des Reformprozesses, bei  den SPD-Anhängern sind es sogar 82 Prozent. Das macht Mut und zeigt,  dass die SPD eine Chance hat, die historische Herausforderung nicht nur  zu überstehen, sondern auch gestärkt aus ihr hervorzugehen.  Dazu bedarf  es aber noch mehr als handwerklich gelungener Tagespolitik. Die SPD  muss so wie zu Beginn des Industriezeitalters eine Antwort auf die Frage  finden, wie wir zukünftig in sozialer Sicherheit leben und arbeiten  können. Bisher fehlen dazu wirkliche Visionen. Die müssen  Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten noch entwickeln. Nichts ist  also in der nächsten Zeit wichtiger als eine fundierte programmatische  Arbeit. Dabei wird es nicht nur um Antworten auf die konkreten Fragen  etwa der Ausgestaltung der Bürgerversicherung gehen müssen, sondern  insgesamt auch um einen wirklichen Rahmen, der Orientierung und Heimat  gibt in der globalisierten Welt.
