Das Ende der Westalgie
Berliner Republik 6/2004
Stimmungsaufschwung im Maschinenraum der Republik
Wie der rheinische Regierungs- und Parlamentsapparat in Berlin ankam
von Ursula Mogg, MdB
Der Umzugssommer 1999 war meteorologisch einer der besseren seiner Art. In Berlin jedenfalls schien die Sonne, was dem allgemeinen Bedürfnis der soeben in etlichen Legionen zugezogenen Rheinländer nach Zusammenrottung sehr entgegen kam. Sie waren neu in einem fremden Land, aber sie waren auch verdammt viele. Und man kannte sich ja. Aus Bonn.
Wie gesagt, das Wetter war gut in diesem Sommer, die Verleihfirmen für Transportfahrzeuge hatten Konjunktur ebenso wie die größeren Speditionen. Büroräume wurden in Augenschein genommen, schnatternd empörte man sich über kleinere und größere Pannen. Dass noch immer kein Telefonanschluss. Wo denn der Schreibtisch. Wie man denn bitteschön ohne Computer. Gleichwohl bot dies beste Gelegenheit, improvisierte Krisenstäbe umgehend und während der Dienstzeit in nahegelegenen Biergärten zusammen zu rufen. Am liebsten aber in der Ständigen Vertretung, kurz "StäV", jenem neuberliner Etablissement, in dem sich just jenes Bonner Urgestein, das gegen den Umzug wenige Jahre vorher am lautesten gewettert hatte, unter Ausnutzung einer veritablen rheinischen Westalgie eine goldene Nase verdiente.
"Am Freitach fahr´ isch widder no Kölle, da bleib isch dann erst mal für´n Woch, isch freu´ misch att dropp." In den ersten Wochen und Monaten war das Geplauder der Pendler unterhaltsam und stieß auch in seinen banaleren Ausformungen auf lebhaftes Interesse. Man redete nicht übers Wetter, sondern jeder trug bei, wann er das letzte Mal am Rhein gewesen war oder wann er das nächste Mal wieder hineilte. "Haach, schön!" seufzten fistelig die, deren nächste "Heimreise" noch auf sich warten ließ. Wie Internatsschüler vor einem Heimfahrwochenende: Heimweh, Herzschmerz, Sehnsucht allenthalben.
Dann kamen erste Kommentare dieser Art: "Geht dir das ständige Gemecker über Berlin auch so auf den Zeiger?“"Erleichterung. Man war nicht mehr allein. Klar, man ging auch weiter zu den Konzerten der "Höhner", wenn sie wieder in der Hauptstadt gastierten, freute sich über Kabarettabende mit Beikircher oder Jürgen Becker. In den Bonner Zeiten waren diese Veranstaltungen immer ausverkauft gewesen, jetzt endlich gab es Karten. Und die Sultane der rheinischen Spaßkultur vergaßen ihre Schäfchen in der erzwungenen Diaspora nicht. Auch das eher ein Pluspunkt für Berlin!
Nirgendwo dürfte ein Berliner in jenem Spätsommer 1999 einsamer gewesen sein als in den neubezogenen Parlaments- und Regierungsgebäuden der Bundeshauptstadt. Fünf Jahre später ist wenig übrig geblieben von der rheinischen Westalgie, die anfangs in den meisten obersten Bundesbehörden demonstrativ das Kommando führte. Berlin 2004 hat seine rheinische Minderheit geschluckt so wie einst Amerika die Iren. Es fiel umso leichter, als viele der Zugezogenen eher Überzeugungsrheinländer waren als Eingeborene, schon in Bonn mehr "Immis" als Platzhirsche. Längst sind die Meisten zu Überzeugungsberlinern konvertiert. Auch wenn Berlin längst nicht über die emotionale Gravitation der rheinisch-karnevalkesken Gemütsart verfügt - so ehrlich wollen wir bleiben!
Viele pflegen ihr Brauchtum, hören noch hin und wieder Bläck Fööss, kultivieren den Karneval im Niemandsland, trinken ihr Kölsch. Aber inzwischen tun sie das fröhlich, längst nicht mehr trübselig den alten Zeiten nachhängend. Vor fünf Jahren hätte man es Manchem abgenommen, dass er "zo Foß no Kölle jonn" wollte, heute singt man´s aus alter Verbundenheit noch mit.
Die Rheinländer im Bundestag, es gibt sie noch, aber sie sind nicht mehr nur Rheinländer. Und die berlinernden oder sächselnden Dialekte haben mit den Jahren zugenommen und Anschluss gewonnen. Die Hauptstadt, sie ist in Berlin angekommen, und mit ihr die Einflüsse aus allen Landesteilen. Außergewöhnlich daran ist heute nur noch, dass sich der originäre Berliner Anteil daran in den Hauptstadtinstitutionen etwas mühsamer als normal durchsetzen musste.
Die Zahl der seinerzeit mit umgezogenen "Bonner" hat sich im Laufe der fünf Jahre ein wenig verringert. Einige der Pendler von 1999 und 2000 genießen inzwischen ihren Ruhestand. Ein knappes Viertel des 59 Leute zählenden Fahrdienstes des Bundestages, nämlich vierzehn, war 1999 auch in Berlin wieder mit dabei. Heute sind immerhin noch elf von ihnen übrig.
Rund 800 Verwaltungsmitarbeiter des Bundestages pendelten im Jahr 2000 zwischen Berlin und Bonn jeweils zu den Wochenenden hin und her. Eine Reihe von Charterfliegern und Sonderzügen bewältigte diese Völkerwanderung jeden Freitagnachmittag und Sonntagabends, zu der eine beträchtliche Zahl an Abgeordnetenmitarbeitern hinzukam, die unter denselben rechtlichen Voraussetzungen arbeiten - und umziehen - konnten.
"Die fünf Jahre an der Spree habe ich nie bereut," erklärte kürzlich der Koblenzer Hans Kreuder, 65, der seit 27 Jahren als Saaldiener im Deutschen Bundestag tätig ist und Ende des Jahres in den Ruhestand geht, der Rhein-Zeitung. Freilich, für ihn war die Zeit in den "sibirischen Steppen", wie Adenauer gelegentlich die Topographien rechts des Rheins genannt haben soll, von Anfang an überschaubar. Jetzt zieht es ihn zurück in sein Haus in der Nähe von Bonn. Und selbstverständlich freut er sich darauf, dass der Besuch bei seinen Verwandten in Koblenz und Umgebung zukünftig keine so weiten Wege mehr erfordert. Aber wohlgefühlt habe er sich doch in Berlin, sagt Kreuder.
So pendeln fünf Jahre nach dem Umzug nur noch wenige regelmäßig in den Westen. Aus der Bundestagsverwaltung sind es zusammen 93 Leute, von denen 52 erst vor ein paar Wochen mitsamt der Bundestagsbibliothek nach Berlin übergesiedelt sind. Die verbleibenden 41 sind ausschließlich solche Mitarbeiter, die sich in absehbarer Zeit auf ihren Ruhestand freuen dürfen, ähnlich wie Hans Kreuder. Für sie stellte eine Sonderregelung eine verlängerte Pendlerberechtigung sicher, als Alternative zur dauerhaften Übersiedelung. Und ebenso wie der Saaldiener besitzen Einige von ihnen ihr Eigenheim in der Nähe des Rheins, in dem sie demnächst wieder wohnen werden.
Als gebürtige Bad Godesbergerin ist auch Ute Rehkessel, die ebenfalls mitsamt ihrem Arbeitsplatz, der Vertretung des Landes Rheinland-Pfälz beim Bund, nach Berlin zog und den Wechsel nach eigenem Bekunden gut geschafft hat, eigentlich Bonner Urgestein – wenn auch noch jung an Jahren. "Was soll die Frage?" deutet die kleine Pause vor ihrer Antwort fast an. Aber sie wiegelt ab: "Ab und zu besuche ich meine Eltern und Freunde in Bonn. Zurück will ich nicht mehr, höchstens irgendwann mal weiter, in eine andere Großstadt – Hamburg zum Beispiel." Sie vermisse einzig den Rhein als "fließendes Gewässer" - gegen den die kleine Spree nun mal nicht anstinken kann. Schöner dagegen sei der freie und von Bergen unverstellte Blick, den man in Berlin habe. Und natürlich die Möglichkeiten, die einem die Großstadt biete.
Auf die Frage, was er heute noch besonders am Rheinland vermisse, meint Norbert Weirauch, der den Fraktionsfahrdienst der SPD im Bundestag leitet, lapidar: "Eigentlich nichts, außer dem Rhein und dem Siebengebirge." Seine Verwandten besucht er zwar regelmäßig in Bonn. Aber er sei "in Berlin geboren und im Rheinland aufgewachsen" und schon zu "DDR-Zeiten" habe er Hans-Jochen Vogel regelmäßig, dreimal im Monat, nach Berlin gefahren, so dass er längst eine Beziehung zu der Stadt habe.
Man glaubt ja nicht jedem alles - zumal wenn man selbst aus dem Rheinland kommt. Die Erkenntnis der Hobby-Ethnologen über das angeblich etwas oberflächliche Wesen des Menschenschlags zwischen Mittel- und Niederrhein kondensiert sich in dem Satz: Wenn du in einer kölschen Kneipe Freundschaft schließt, dauert die bis zum Verlassen des Lokals, in Norddeutschland dagegen hast du einen Freund fürs Leben. Vielleicht ist das eine nicht ganz zulässige Herabwürdigung des freundlichen und geselligen rheinischen Wesens, aber doch mit einem Körnchen Wahrheit ausgestattet. Nirgends in Deutschland wird Harmonie so fantasievoll gesucht und inszeniert wie am Rhein, aber kaum irgendwo gebiert der Klüngel auch so überraschende und wechselhafte Interessenverbindungen.
Fern des Rheins zu sein, ist für Rheinländer normalerweise eine emotionale Grenzsituation. Das heißt nicht viel mehr als: Es ist gewöhnungbedürftig. Und jeder soll um die beinahe schon menschenrechtswidrige Zumutung wissen, die diesen Gewöhnungsprozess erzwingt! Nach diesem Prozess der Anpassung aber wird ein Rheinländer selbst am Amazonas wieder zum Rheinländer, der auch dem größten Esel noch Komplimente macht, um nur nicht alleine an der Theke zu stehen. Wer sich über die Berliner beschwert, weil sie zwischen den Extremen "ungehobelt-patzig" und "superfreundlich" keine Grauzone kennen, der sollte das wissen. "Der Rheinländer", um es in den Worten eines seiner begabtesten Analytiker zu sagen, "mag es gerne geschmeidig." Was die Mentalität der Regionen betrifft, so kann die Berliner Republik sich von der rheinischen kaum drastischer unterscheiden. Aber dafür läufts eigentlich nach fünf Jahren ziemlich gut am neuen Regierungssitz.